Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß – das akute Bein
Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß. Für die Gefäßchirurgie sind gegenwärtig nicht nur die venösen Thrombosen eine Herausforderung. Nahezu gleich häufig treten bei Covid-19 Infektionen auch arterielle Thrombosen, also ein akuter Verschluß der arteriellen Gefäße auf. Dies sieht die Gefäßchirurgie nunmehr in erster Linie an den Beinarterien.
Gerinnungsdefekte werden bei vielen Atemwegsviren beschrieben, einschließlich dem ersten Coronavirus mit schwerem akutem respiratorischem Syndrom (SARS CoV-1, 2003), der Coronavariante aus dem Nahen Osten [MERS-CoV] und dem Coronavirus 2 [SARS-CoV-2]. Auch bei Grippeviren ist die Entstehung von Gefäßthrombosen seit Anfang der 70er Jahre beschrieben. Die Ergebnisse lassen vermuten, daß eine Entzündung der Gefäßinnenwand die Freisetzung von Zytokinen (Immun-Eiweiße), Übergerinnbarkeit und Sauerstoffmangel zur Thrombose beitragen.
Thrombotische Komplikationen bei Patienten mit COVID-19 Infektionen treten auf verschiedene Weise auf, am häufigsten bei venösen Thromboembolien. Aber auch bei Thrombosen der Extremitätenarterien, Gehirnarterien, Herzkranzarterien und Darmarterien sehen wir sehr heftige Komplikationen.
Die frühzeitige Erkennung einer akuten Beinarterienthrombose mit Verlust der Sauerstoffversorgung (Ischämie), bei der die arterielle Perfusion der Extremität mit sauerstoffhaltigem Blut plötzlich abnimmt, ist enorm wichtig zur Komplikationsvermeidung. Dazu kommt die Möglichkeit, durch eine Katheter – oder chirurgische Intervention die Sterberate bei diesen sehr kranken Patienten zu senken und die Wahrscheinlichkeit des Beinverlusdtes durch Amputation zu reduzieren.
Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß: Häufigkeit und Entstehung
Die verfügbaren Daten zur Inzidenz und zu den Merkmalen arterieller thromboembolischer Komplikationen bei Patienten mit COVID-19 stammen aus ca. einem Dutzend Studien und Einzelfallberichten. Die Häufigkeit einer Akuten Beinarterienthrombose bei Patienten mit COVID-19, die einen Krankenhausaufenthalt benötigen, liegt zwischen 3 und 15 Prozent. Dies entspricht z.B. zwischen 600 und 3000 Fällen in den USA, basierend auf geschätzten 20.000 Patienten, die derzeit eine Intensivpflege benötigen, eine Prävalenz von 4 bis 21 pro 100.000 hospitalisierten Patienten mit COVID-19.
Zum Vergleich: Die Rate einer Akuten Beinarterienthrombose in der Allgemeinbevölkerung beträgt ungefähr 10 bis 15 pro 100.000 pro Jahr (ungefähr 30.000 bis 50.000 Fälle) und umfasst embolische, thrombotische und traumatische Ursachen. Zu den Risikofaktoren für diese Akute Beinarterienthrombose gehören Vorhofflimmern und andere kardiale Ursachen für Thromboembolien, Unfälle, Arterienwandspaltungen, periphere Arterienerkrankungen (Diabetes, Arteriosklerose) und gesteigerte Gerinnungsneigung im Zusammenhang mit vererbten oder erworbenen Erkrankungen und Malignität.
Bei Patienten mit COVID-19 ist die Akute Beinarterienthrombose hauptsächlich auf Thrombosen und Embolien großer oder mittlerer Arterien (Beckenarterien, Oberschenkelarterien, Kniearterien) zurückzuführen, obwohl auch andere Ätiologien auftreten können. Die untere Extremität ist dabei am häufigsten betroffen. In verschiedenen Fallserien fand sich folgende Verteilung der akuten Arterienthrombose:
● Untere Extremität – 71 Prozent
● Obere Extremität – 14 Prozent
● Zerebrale Ischämie – 10 Prozent
● Darmischämie – 4 Prozent
● Mehrere Gefäßlokalisationen – 12 Prozent
● Begleitende tiefe Venenthrombose – 16 Prozent!
Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß: Risikogruppen
Basierend auf mehreren Fallserien waren Patienten mit einem Akuten Beinarterienverschluss und COVID-19 Infektion im Durchschnitt über 60 Jahre alt und hatten einen Body-Mass-Index > 25 und typische kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck, periphere Arteriosklerose und Diabetes. Die Häufigkeit von Arteriosklerose und Diabetes in diesen Übersichten war unterschiedlich und lag zwischen 15 und 53 Prozent.
Es ist allerdings beachtenswert, daß etwa 20 Prozent der Patienten ohne Risikofaktoren und jünger als 60 Jahre alt waren. Das Durchschnittsalter für hospitalisierte Patienten mit Akutem Beinarterienverschluß liegt bei 64 Jahren. Das Risiko für diesen akuten medizinischen Notfall ist laut verschiedener Studien bei Patienten ≥ 75 Jahre am höchsten.
Ein COVID-19-assoziierter Akuter Beinarterienverschluß trat auch bei Patienten auf, die eine venöse Thromboseprophylaxe erhielten. Das Risiko liegt hier bei ca. 10% aller Patienten. Die Akute Beinarterienthrombose kann sich jedoch auch bei Patienten ohne typische Risikofaktoren und ohne typische Vorgeschichte für Thrombosen entwickeln!
Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß: Das klinische Bild, die Diagnose
Der Akute Beinarterienverschluß ist definiert als eine akute Abnahme der Extremitätenperfusion, die normalerweise neue oder sich verschlechternde Symptome oder Anzeichen hervorruft und häufig die Lebensfähigkeit der Extremitäten gefährdet. Die im Lehrbuch zu findenden klassischen klinischen Merkmale eines Akuten Beinarterienverschlusses sind in der sog. 6 P – Regel nach Pratt (Amerikanischer Chirurg Gerald H. Pratt 1928-2006):
Pain (Schmerz), Paleness (Blässe), Pulselessness (Pulslosigkeit), Paraesthesia (Mißempfindungen) und Paralysis (Lähmung) und Prostation (Schock).
Der Akute Beinarterienverschluß ist eine schwere Komplikation bei Krankenhauspatienten mit schwerem COVID-19 Infektionen. Aber auch Patienten mit nur leichter Covid-Symptomatik zeigen diese schwere Gefäßveränderung an den Beinarterien. In einigen Fällen war der Akute Arterienverschluß auch erstes Symptom für die Covid-19 Infektion. In mehreren Berichten wurden Patienten beschrieben, die vorwiegend über akute Extremitätenschmerzen klagten, aber nur leichte Atemwegsbeschwerden zeigten. Der Akute Beinarterienverschluß trat in einigen Fällen auch nach der Ausheilung von Covid-19 auf.
Diagnostik:
Erste Maßnahme ist die klinische Untersuchung mit Tasten der Pulse an den peripheren Extremitätenabschnitten (Kniearterie, Unterschenkelarterien), gefolgt von der Bestimmung des Doppler-Index (Quotient des Blutdrucks am Unterschenkel durch Blutdruck am Unterarm – Werte bis 0,8 sind weniger gefährlich, darunter Verdacht auf akuten Arterienverschluß). Duplex-Ultraschall und CT – oder MRT – Angiographie sind die häufigsten bestätigenden Bildgebungsmodalitäten und helfen bei der Bestimmung des anatomischen Ortes und des Ausmaßes des arteriellen Verschlusses.
Im Allgemeinen bleibt für Patienten mit lebensfähigen oder geringfügig bedrohten Gliedmaßen in der Regel genügend Zeit, um vor dem Eingriff eine Gefäßbildgebung zu erhalten. Patienten mit einem unmittelbar bedrohten Glied benötigen jedoch eine dringendere Untersuchung, typischerweise in einem Operationssaal.
Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß: Therapieansätze
Antikoagulation einleiten – Bei Patienten mit einem Akuten Beinarterienverschluß sollte umgehend eine intravenöse therapeutische Antikoagulation mit Heparin eingeleitet werden. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten hinsichtlich einer von Covid-19 bekannten Thrombozytopenie (Abfall der Thrombozyten) – diese kann auch durch das Heparin provoziert werden (H I T – Syndrom)! Weitere Kontraindikationen sind aktive oder schwerwiegende Blutungen vor 24 bis 48 Stunden, kürzlich durchgeführte Operationen oder Kontraindikationen für die Anwendung von Heparin.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Patienten mit COVID-19 eine Vielzahl abnormaler Gerinnungsmuster aufweisen können, die eine wirksame therapeutische Antikoagulation hemmen können.
Optionen für die Arterien – Op
Die chirurgische Wiedereröffnung beim Akuten Beinarterienverschluß besteht aus einer offenen Thrombektomie, Bypass, Patchplastik.
Die endovaskuläre Revaskularisation kann eine kathetergesteuerte Thrombolyse (medikamentöse Auflösung des Gerinnsels) oder eine katheterbasierte mechanische Thrombektomie umfassen.
Kombination aus offenen und endovaskulären Techniken ebenso möglich, insbesondere beim gleichzeitigen Arterienverschluss in mehreren verschiedenen anatomischen Regionen (z.B.: Bekenarterienverschluß + Oberschenkel -/ Unterschenkelverschluß oder Aortenverschluß.
Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß: Komplikationen und Todesrate beim Beinarterienverschluß
Sterblichkeitsrate
Insgesamt liegt die Sterblichkeitsrate von COVID-19 für diejenigen, die einen Krankenhausaufenthalt benötigen, bei über 20 Prozent. In den meisten Fällen wurde die Todesursache auf Atemversagen, Blutvergiftung, Herzversagen, Nierenverletzung oder die Folgen von Gerinnungsstörungen zurückgeführt. Bei Patienten mit einem Akuten Arterienverschluß liegt die Sterblichkeitsrate bei bis zu 50 Prozent!
Beinamputationen
Die Rate der großen Amputationen (z. B. Amputation unterhalb des Knies, Amputation oberhalb des Knies) ist höher als bei anderen Gefäßerkrankungen und bei 7 bis 35 Prozent der Patienten mit COVID-19-assoziiertem Akuten Beinarterienverschluß erforderlich. In der Allgemeinbevölkerung ohne Covid-19 Infektion liegt die Rate der großen Amputationen zwischen 6 und 23 Prozent.
Thromboserezidiv
Bei Patienten mit COVID-19-bedingtem Akuten Beinarterienverschluß, die zunächst erfolgreich therapiert worden sind, aber eine erneute Arterienthrombose erleiden, ist die Aussicht auf einen Erfolg der neuen Therapie schlecht. Hier kann die Amputation der geschädigten Gliedmaßen zu einem notwendigen lebensrettenden Verfahren werden.
Saphenion: Covid-19 und Arterienverschluß: Zusammenfassung und Empfehlungen
Thrombotische Komplikationen im Zusammenhang mit einer schweren Infektion mit dem Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) treten auf verschiedene Weise auf. Ein Akuter Beinarterienverschluß ist ein dramatisches klinisches Ereignis, das typischerweise im Zusammenhang mit einer schweren Infektion berichtet wird. Es wird jedoch auch bei Patienten mit leichtem Verlauf der Covid-19 Infektion oder bei asymptomatischem Verlauf von Akuten Beinarterienverschlüssen berichtet. Bei Patienten mit COVID-19 überwiegt eine Thrombose als Entstehungsmechasnismus, eher selten eine Embolie.
Zu den klassischen klinischen Merkmalen gehören die 6 Ps (Schmerz, Blässe, Poikilothermie, Pulslosigkeit, Parästhesie und Lähmung). Zu den klinischen Merkmalen von COVID-19-assoziiertem ALI gehören die folgenden:
Die untere Extremität ist im Vergleich zur oberen Extremität häufiger betroffen (etwa 70 Prozent).
Risikofaktoren für einen Akuten Arterienverschluß bei Patienten mit COVID-19 Infektion sind Alter, Fettleibigkeit und kardiovaskuläre Nebeberkrankungen. Patienten ohne Risikofaktoren können ebenfalls an einem Akuten Arterienverschluß erkranken.
Die Akute Beinarterienthrombose kann sich bei Patienten mit COVID-19 auch unter Thromboprophylaxe entwickeln!
Der Akute Arterienverschluß betrifft typischerweise Patienten mit schwerem COVID-19, die Erkrankung tritt in der Regel fünf bis sieben Tage nach einer Dekompensation der Atemwege auf. Allerdings haben ungefähr 20 Prozent der Patienten mit COVID-19 wenige oder keine respiratorischen Symptome.
Über Thrombosen großer (z. B. Aorta, Beckenarterien, Schulter/Achselhöhlenarterien) oder mittelgroßer (z. B. oberflächlicher Oberschenkel / Unterschenkelarterien und Unterarmarterien) wurde berichtet. Eine kleine Gefäßthrombose, die zu einem Absterben von Zehen oder Fingern führt ist eher selten. Eine Thrombose früherer Gefäßrekonstruktionen einschließlich Stents und Bypass-Transplantaten kann ebenfalls auftreten.
Die Diagnose ist überwiegend klinisch, und die Gefäßbildgebung (Duplex-Ultraschall, Computertomographie-Angiographie) bestätigt den Ort und das Ausmaß des akuten arteriellen Verschlusses.
Die therapeutische Antikoagulation sollte eingeleitet werden, sobald die Diagnose eines Akuten Arterienverschlusses gestellt wurde. Patienten mit COVID-19 können eine Vielzahl abnormaler Gerinnungsmuster aufweisen, die eine angemessene therapeutische Antikoagulation wie Heparinresistenz oder Heparin-induzierte Thrombozytopenie hemmen können. Thromboembolische Ereignisse können trotz offensichtlich ausreichender Antikoagulation auftreten. Es ist wichtig, die Schwere der systemischen Erkrankung zu berücksichtigen, wenn überlegt wird, ob bei Patienten mit COVID-19 eine Intervention durchgeführt werden soll. Viele Patienten mit schweren respiratorischen Manifestationen von COVID-19 sind keine Kandidaten für eine Extremitätenrettung. Trotz zunächst erfolgreicher Gefäß-Op weist der Akute Arterienverschluß in Verbindung mit COVID-19 eine hohe Sterberate und eine hohe Rate an Gliedmaßenverlusten auf. Bei bis zu einem Drittel der Patienten ist eine größere Amputation (z. B. Amputation unterhalb des Knies, Amputation oberhalb des Knies) erforderlich.
Wichtig!
Nach erfolgreicher Intervention beim Akuten Arterienverschluß (mit Katheter oder gefäßchirurgisch) erhalten Patienten mit COVID-19 eine therapeutische Antikoagulation und werden auf Tabletten – Antikoagulation (z. B. Xarelto, Lixiana, Elliquis) mit oder ohne Zusatz von Heparin eingestellt.
Ein Thrombozytenaggregationshemmer (z. B. Aspirin, ASS) ist zur Prophylaxe wiederkehrender arterieller (nicht venöser!) Thrombosen sinnvoll und wirksam und reduziert die arteriellen Thrombosen effektiv.
Abschließender Gedanke:
Der Autor hat seit 1996 diese dargestellten akuten Erkrankungen an den Beinarterien sowohl im Krankenhaus Gransee, als auch dann ab 1997 in seiner Praxis als selbstständiger Gefäßchirurg mittels Kathetertechnik therapiert. Auffällig für uns war schon damals die Häufung der Patienten in den Wintermonaten – von November bis März kamen vergleichsweise sehr häufig Patienten mit einer akuten Symptomatik am Bein in unsere Sprechstunde. Es war Grippezeit!
Und aktuell die Bestätigung – die Covid-19 Infektion ist eine Gefäßerkrankung!
Photos: Utzius
Literatur / Links:
Heberer, G. und van Dongen, R.J.A.M.: Gefäßchirurgie; Springer-Verlag Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo, London, Paris
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https://www.uptodate.com/contents/covid-19-acute-limb-ischemia
https://www.saphenion.de/news/saphenion-covid-19-impfung-thromboserisiko-im-alter/
https://www.saphenion.de/news/saphenion-covid-19-impfung-thrombose-embolie-die-risikogruppen/
https://www.saphenion.de/news/saphenion-covid-19-krampfader-und-venenthrombose/
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