SaphenionPatientenInfo: Covid 19 – Massentest – Sinn und Unsinn
SaphenionPatientenInfo: Covid 19 – Massentest – Sinn und Unsinn: Testen, testen, testen – wirklich eine sinnvolle Strategie? Für Personen, bei denen kein begründeter Verdacht auf eine Infektion vorliegt, ist die Aussagekraft eines einzelnen positiven Testergebnisses verschwindend gering. Davon ist Dr. med. Dagmar Lühmann vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf überzeugt.
Wir übernehmen diesen Artikel nahezu ungekürzt aus dem Ärztemagazin Colliquio.
Der Artikel von Dr. med. Dagmar Lühmann wurde zuerst im Journal der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg veröffentlicht.
SaphenionPatientenInfo: Covid 19 – Massentest – Sorgen die Tests wirklich für Gewissheit bei jedem Einzelnen?
In den 235 beim Robert Koch-Institut (RKI) registrierten Testlaboren erhöhte sich die Zahl der wöchentlich durchgeführten Tests von 127.457 in KW 12 auf 573.802 in KW 31, 1 insgesamt sollen Kapazitäten für über eine Million Tests pro Woche verfügbar sein. 2 Die nationale Teststrategie des Robert Koch-Instituts wurde zuletzt ergänzt um die Möglichkeit (1.8.2020) bzw. die Verpflichtung (6.8.2020), sich als Reiserückkehrer aus einem Risikogebiet (> 50 Neuinfizierte/ 100.000 Einwohner in 7 Tagen und/oder entsprechende qualitative Berichte aus der Region) testen zu lassen. Noch weiter ging das Bundesland Bayern, wo sich seit dem 1. Juli 2020 jeder Einwohner testen lassen kann – „Testungen, um für Gewissheit bei jedem Einzelnen zu sorgen“, wie die Webseite des Bayerischen Gesundheitsministeriums verspricht.
Spätestens hier wird es problematisch:
Nicht nur aus Gründen von Zuständigkeit, Organisation und Finanzierung – die hier gar nicht angesprochen werden sollen –, sondern aus Gründen der Interpretierbarkeit der Ergebnisse. Kein Test ist unfehlbar, auch der zum Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion durchgeführte PCR-Test nicht. Im Ringversuch wies der in deutschen Laboren durchgeführte Test eine Sensitivität von 97,7 bis 98,8 % auf, die Spezifität betrug 98,6 %. 4 Das hört sich zunächst mal gut an – von 100 Infizierten würden etwa 98 richtig als infiziert erkannt, und adäquate Maßnahmen könnten ergriffen werden (Sensitivität). Und von 100 Nicht-Infizierten erhielten 98 oder sogar 99 ein richtig negatives Testergebnis (Spezifität), 1-2 Personen würden allerdings entweder fälschlich als infiziert bezeichnet oder ihr Testergebnis wäre nicht interpretierbar.
Reale Bedingungen: Sensitivität von 70% und Spezifität von 95%!
Diese Zahlen beziehen sich zunächst einmal auf die Genauigkeit des Tests unter kontrollierten Laborbedingungen. Hinzu kommen eventuelle Fehler, zum Beispiel bei der Probenentnahme, Probentransport oder auch Verwechselungen oder die Problematik des richtigen Zeitfensters für den Virusnachweis. Angesichts all dieser Probleme halten britische Autoren es in einer im BMJ veröffentlichten Arbeit für realistisch, für Tests außerhalb von Kliniken und in der Allgemeinbevölkerung eine effektive Sensitivität von 70% und eine Spezifität von 95% anzunehmen.
Positiv-prädiktiver und negativ-prädiktiver Wert
Angesichts möglicher falsch-negativer und falschpositiver Testergebnisse stellt sich die Frage nach der Aussagekraft eines positiv oder negativ ausgefallenen Tests. Hierzu werden die so genannten prädiktiven Werte herangezogen, die aussagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, bei positivem Testergebnis tatsächlich unter der gesuchten Erkrankung – hier Infektion – zu leiden (positiv-prädiktiver Wert) bzw. bei negativem Testergebnis tatsächlich nicht infiziert zu sein (negativ-prädiktiver Wert).
Diese Werte sind stark abhängig davon, wie häufig die Erkrankung bzw. hier Infektion in der Population ist, aus der die getestete Person stammt. Generell gilt: Je höher die Prävalenz – auch Vortestwahrscheinlichkeit genannt –, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein positiver Test auch tatsächlich eine Erkrankung anzeigt. Im Fall von Covid-19 erhöht sich die Vortestwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von Symptomen, Kontakten mit Erkrankten oder der (Wohn-) Umgebung. Schlenger (2020) berechnete unter Annahme einer Sensitivität von 70% und einer Spezifität von 95% die positiv-prädiktiven Werte eines anlasslosen positiven Tests für unterschiedliche Ausgangswahrscheinlichkeiten:
Prävalenz | positiv-prädiktiver Wert |
---|---|
3% z. B. Hausarztpraxis | 30% |
20% z. B. Altenpflegeeinrichtung | 78% |
80% z. B. Isolierabteilung | 98% |
Wie stellt es sich nun dar, wenn die Prävalenz noch niedriger ist?
Zum Beispiel für eine symptomlose Person ohne Covid-19 Kontakte, die einfach für sich „Gewissheit“ möchte? Da es keine Prävalenzdaten für SARS-CoV-2-Infektionen in Deutschland gibt, wird zur Annäherung an eine Prävalenzzahl in der Bevölkerung die vom RKI festgelegte Risikoschwelle von 50 Neuinfektionen/100.000 Einwohner/Woche verwendet und zur hypothetischen Prävalenz erklärt. Dann ergibt sich das folgende Szenario (Abb. 1). Die Aussagekraft eines einzelnen positiven Testergebnisses ist hier also verschwindend gering. Ohne Test beträgt die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu sein 50/100.000 bzw. 0,05%, und in Kenntnis des positiven Testergebnisses 0,7%. Dies ist sehr weit von der versprochenen Gewissheit entfernt.
Rechnet man das Ganze unter Annahme der sehr viel günstigeren Sensitivitäts- und Spezifitätswerte von 98% und 99% aus den Laborversuchen, ändert sich nicht viel an der Aussage. In Kenntnis des positiven Testergebnisses beträgt die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu sein, nun 4,6% – auch dieses Ergebnis ist noch sehr weit von Gewissheit entfernt. Es würden allerdings nur etwa 1000 und nicht 5000 Menschen umsonst in Quarantäne geschickt.
1000 falsch positive Ergebnisse auf 100.000 Tests
Und noch eines wird aus diesem Szenario klar: Selbst wenn keine infizierten Personen unter den 100.000 sind, wird es beim anlasslosen Testen auch unter optimierten Bedingungen immer noch etwa 1000 falsch positive Testergebnisse auf 100.000 Tests geben. Corona bleibt uns erhalten.
Photos: Utzius
Links / Literatur
https://www.coliquio.de/wissen/covid-19-praxis-100/anlassloses-testen-auf-sars-cov-2-100